Im Bann der Wüste
„Die Wüste kann der Tempel Gottes ohne Mauern genannt werden. … Obwohl Gott überall anwesend ist und die ganze Welt als seine Domäne betrachtet, glauben wir, dass seine Lieblingsplätze die Einsamkeit des Himmels und der Wüste sind.“
(Eucherius von Lyon, De laudi eremi, Kap. 3)
„Die Wüste wächst: weh, wer zur Wüste ward!
Wüste ist Hunger, der nach Leichen scharrt.
Ob Quell und Palme sich hier Nester baun –
Der Wüste Drachenzähne kaun und kaun […].“
(Friedrich Nietzsche, Gedicht-Fragment NF XI 299)
Wüsten sind bizarre Landschaften, die in den Vorstellungswelten und Überlieferungen vieler Kulturen eine wichtige Rolle spielen. Wüsten lösen tiefschürfende Emotionen aus, die widersprüchlich, aber zugleich religiös aufgeladen sind. Diese Emotionen sind durch menschliche Erfahrungen im Umgang mit Wüsten geprägt.
Abschreckend, anziehend und geheimnisvoll zugleich, bilden Wüsten in vielen Kulturen der Vergangenheit und Gegenwart Kontrast-Orte – eine „Anders-Welt“, die aufgrund ihrer Abgeschiedenheit, Endlosigkeit und Ewigkeit mit dem Göttlichen assoziiert wird oder als Aufenthaltsort für Geister, Dämonen, Fabelwesen und vielerlei bedrohliche Kreaturen betrachtet wird. Die Wüste erscheint häufig als ein ambivalenter Raum, in dem Grenzen überschritten werden: Sie kann ein Ort der Verbannung, des Todes und Übergangs ins Jenseits, aber auch ein Ort der spirituellen Befreiung, der Neu- oder Wiedergeburt und der Überwindung des Todes sein.
Seit jeher haben Menschen Wüsten als Orte für die Begegnung mit dem Göttlichen und als Raum für Offenbarungen genutzt. Sie haben in diesen Gegenden religiöse Gemeinschaften begründet und sie immer wieder für verschiedene Rituale aufgesucht, um Grenzerfahrungen und innere Wandlungen zu erleben.
Die menschlichen Vorstellungen von der Wüste sind vielfältig und voller Kontinuitäten und Wandlungen zugleich. Folgt uns auf einen Streifzug durch Erzählungen, Mythen und Legenden!