Wasser als Heilmittel

Wasser spielt eine wichtige Rolle in religiösen und rituellen Praktiken – insbesondere im Zusammenhang mit der Heilung von Verletzungen oder Krankheiten. Ein regionales Beispiel sind die Thermalquellen in Wiesbaden, deren heilende Wirkung bereits von den Römern gepriesen wurde. Noch heute wird das 25.000 Jahre alte Wasser des Wiesbadener Kochbrunnens in Gläser abgefüllt und getrunken, um Krankheiten oder Entzündungen zu lindern.

Die heilende Wirkung von Wasser wurde bereits im Alten Ägypten geschätzt, was anhand der sogenannten Horusstelen deutlich wird. Auf einer solchen Stele ist der nackte Kindgott Horus abgebildet, der triumphierend auf Krokodilen steht und weitere gefährliche Tiere (meistens Schlangen, Skorpione, eine Gazelle und einen Löwen) in den Händen hält. Über Horus ist eine Maske des Schutzgottes Bes wiedergegeben, der Unheil vertreiben soll.

Auf allen Seiten der Stele sind magische Texte eingraviert. Die Inschriften dienen zum Beispiel dem Schutz vor gefährlichen Tieren, speziell gegen Schlangenbisse und Skorpionstiche. Bilder und Texte spielen auf mythologische Themen an, wenn z. B. der Kindgott Horus von Skorpionen gestochen und anschließend von seiner Mutter Isis oder anderen Gottheiten geheilt wird.

Größere Horusstelen wurden in den öffentlichen Teilen von Tempeln aufgestellt und mit Wasser übergossen, damit es die heilende Zauberkraft der Texte und Abbildungen aufnahm. Dadurch entstand ein magisch wirksames Heilwasser, das sowohl getrunken als auch äußerlich angewandt wurde. Kleine Horusstelen wurden als Amulette um den Hals getragen.

Der wohl bekannteste Wallfahrtsort der heutigen Zeit dürfte Lourdes sein. Dorthin pilgern jedes Jahr Hunderttausende Kranke. Durch das wundertätige Quellwasser erhoffen sie sich Heilung von ihren Leiden.

Ein Quellheiligtum der gallo-römischen Kultur ist das der Quell- und Flussgöttin Sequana, welches sich am Ursprung der Seine befindet (etwa 30 km von Dijon). Ähnlich wie Lourdes heutzutage, wurde dieser Ort in römischer Zeit von Pilgern aufgesucht, die sich Heilung durch das Quellwasser der Sequana erhofften. Ob das in einem Becken aufgefangene Wasser getrunken, in Bandagen angelegt oder für Bäder verwendet wurde, ist unbekannt. Die Gläubigen brachten der Göttin Opfer- und Votivgaben dar: Münzen, oder auch Votivbleche in Form von denjenigen Körperteilen, die von der Krankheit befallen waren.

Spruch VI: SPRUCH GEGEN EINEN SKORPIONSTICH
Der Kindgott Horus wird von einem Skorpion gestochen und seine Mutter Isis heilt ihn:

„(…) Dann legte Isis ihre Hände auf das Kind, um den Erstickenden zu beleben (und sagte):
‚Gift der Tefent komm, gehe heraus auf die Erde! Du sollst nicht herumwandern, und du sollst nicht eindringen.
Gift der Befent, komm, gehe heraus auf die Erde!
Ich bin Isis, die Göttliche, Herrin der Zauberkraft, die die Zauberkraft verübt, die ausgezeichnet an Beschwören ist, sodass jede beißende Schlange mir gehorcht.
Du sollst niederfallen, Gift der Mestet!
Du sollst nicht herumeilen, Gift der Mestetef!
Du sollst dich nicht erheben, Gift der Petet und der Tetet!
Du sollst nicht eindringen, (Gift der) Matet! Falle nieder, du Mund des Beißenden.‘
So hat Isis gesprochen, die Göttliche, die Zauberreiche an der Spitze der Götter, der Geb seine Geistermacht gegeben, um das Gift an dessen Macht abzuwehren. Wende dich um, weiche, gehe zurück, hinter dich, du Gift! Springe nicht auf, so sagt die Geliebte von Re. (…)“
Übersetzung: Constantin E. Sander-Hansen, Die Texte der Metternichstele (Kopenhagen 1956) 41.


Kochbrunnen in Wiesbaden, modern
Die Thermalquellen in Wiesbaden wurden bereits von den Römern genutzt.


Horusstele, Ende der ägyptischen Spätzeit bis Ptolemäerzeit, ca. 380–200 v. Chr.
Wasser, das über die 19 cm hohe Horusstele gegossen wurde, bekam dadurch magische Kräfte: Es konnte Krankheiten vorbeugen und heilen und vor gefährlichen Tieren schützen.


Statuette der Dea Sequana, gallo-römisch, ca. 40 v. Chr. bis ca. 20 n. Chr.
Ein Bildnis der Dea Sequana, Göttin der Seine, stehend in einer Barke, wurde 1933 gemeinsam mit einer Satyrfigur in dem Heiligtum an der Seinequelle gefunden.