Von Meerwundern und anderen seltsamen Wesen

Bis weit in die Neuzeit hinein war wenig darüber bekannt, welche Wesen sich in den Tiefen der Meere und Seen verbergen. So schuf die menschliche Fantasie allerlei Seeungeheuer, Meerjungfrauen, Riesenkraken und seltsame Fischwesen, die sich in Erzählungen, auf Seekarten und Gemälden finden.

Mittelalterliche Texte berichten nicht nur von zahlreichen Ungeheuern und furchtsamen Gegnern, auch von sogenannten Meerwundern wird erzählt. Wie man sich diese Wesen und ihre Lebensräume vorstellte, zeigt beispielsweise eine Handschrift des anonym verfassten „Wigamur“, die mit zahlreichen Abbildungen versehen ist.

Meer(jung)frauen begegnen uns in vielen Kulturen. Sie können vielerlei Gestalt annehmen: Die Sirenen der griechischen Mythologie waren eher vogelähnlich. Im Mittelalter erzählte man sich von Melusine, deren wahre Gestalt als Wasserfee mit Schlangenleib ihr Ehemann nicht sehen durfte. Über Hans Christian Andersens Märchen von der kleinen Meerjungfrau bis hin zur Loreley am Rhein faszinieren Meerjungfrauen bis heute.

Von der großen Faszination zeugt auch die ausgestellte Figur aus einer Wunderkammer, deren Aussehen beeinflusst ist durch die Ningyo, ein fischähnliches Wesen aus dem japanischen Volksglauben. Das Fangen einer Ningyo soll Sturm und Unglück verursachen.

Solche präparierten Ausstellungsstücke wurden von japanischen Fischern zunächst für einheimische Schausammlungen hergestellt, die angeblich echte Meerjungfrauen zeigen sollten. Meist bestanden sie aus den Oberkörpern von Affen, die mit Krallen, Haizähnen, Haaren oder Schuppen ausgestaltet und auf Fischkörper aufgesetzt worden waren. Im Zuge der Kolonialisierung gelangten diese Objekte als exotische Attraktionen auch in europäische Sammlungen.


Melusine
Die Sagengestalt der Melusine, die meist als Wasserfee mit Schlangenleib dargestellt wird, zählt zu den populärsten Mythen in der Literatur des 12. Jahrhundert, wobei Anlehnungen dieser Geschichte bis in die vorchristliche Sagenwelt hineinreichen. Erzählt wird von einer schönen Frau, die einen Ritter zum Mann nimmt unter der Bedingung, dass er sie niemals in ihrer wahren Gestalt sehen dürfe – ein Tabu, das in der Erzählung selbstverständlich gebrochen wird.

Walfisch, auf dem die heilige Messe gelesen wird
Im Jahr 1621 schrieb der Mönch Honorius Philoponus ein Buch über die zweite Kolumbusreise, deren Protagonist nicht Kolumbus sondern ein Generalvikar namens Bernado Boyle ist. Auf den verschiedenen Illustrationen im Reisebericht wird die fremde Welt Südamerikas als unzivilisiert und wild dargestellt, mit stereotypen Darstellungen der Ureinwohner und monströser Tiere.

Carta Marina
Die Carta Marina, im späten Mittelalter vom schwedischen Bischof Olaus Magnus angefertigt, zählt zu den frühesten Landkarten Nordeuropas. Neben realistischen Szenen aus Natur und Kultur hielten auch sagenumwobene Helden, mystische Meeresungeheuer und die geheimnisvolle Insel Thule Einzug.

Die Walhyäne
Die Vorstellung von den Wesen, die unter der Wasseroberfläche lauern, beflügelt seit jeder die Fantasie der Menschen. Im Spätmittelalter entstand diese Zeichnung aus der Feder des Schweizer Gelehrten und Naturforschers Conrad Gessners, der in seinem mehrbändigen Werk Historia animalum das zoologische Wissen seiner Zeit festhalten wollte. Auch zahlreiche Fabelwesen fanden Einzug in sein Werk.

Hippocampus
Der Hippokamp ist ein griechisches Fabelwesen, das oft als Reittier verschiedener Meeresgötter dargestellt wird. Bis heute ist dieses Wesen – zumindest sprachlich – bekannt, denn es verlieh dem Seepferdchen seinen Namen.

Meermönch
Der Meermönch ist ein mittelalterliches Fabelwesen, dass zu den Meerwundern gezählt wird. Durch Springen und Spielen lockte er der Erzählung nach Menschen an, um sie danach ins Wasser zu ziehen und zu fressen.

Meerwunder
Die Meerwunder im Buch der Natur, das von Konrad von Megenberg (1309-1374) verfasst wurde, spiegelt wie kein anderes Werk die Auffassungen und Vorstellungen der Menschen im Mittelalter wider. Hier vermischen sich fast systematische Darstellungen der Natur sowie Sagen und Überlieferungen ihrer Zeit.

Monstrorum historia
Im Laufe seines Lebens stellte der italienische Biologe Ulisse Aldrovandi (1522-1605) eines der spektakulärsten Kuriositätenkabinette zusammen. So entstand eine der ersten Wunderkammern, die dank Künstlern und Malern wie Agostino Carracci, Teodoro Ghisi und Jacopo Ligozzi ein riesiges Archiv mit Blättern & Zeichnungen von wilden Fantasiegestalten umfasst. Noch heute ist ein Großteil hiervon in der Biblioteca Universitaria di Bologna zu bestaunen.

Nereiden
Die Nereiden sind in der griechischen Mythologie die Begleiterinnen Poseidons, die auf vielen Darstellungen, wie auch auf dieser, auf den Rücken von Delphinen oder Hippokampen reiten. Ihre Faszination verloren sie auch bis in die Neuzeit nicht; bis ins 20. Jahrhundert wurden Nereiden in der Kunst aufgegriffen.


„Sirene von Canosa“, griechisch, 4. Jh. v. Chr.
Sirenen mit Vogelattributen wurden ab ca. 400 v. Chr. im Grabkontext als Helferinnen der Totenklage dargestellt. Die Leier in der Hand und die erhobene Hand als typische Trauergeste unterstreichen diese Funktion.


Zwei Seiten mit Abbildungen aus einer „Wigamur“-Handschrift, um 1475 n. Chr.
Die Meerfrau Lespia (im Bildvordergrund als nackte Frau) sperrt den Prinzen Wigamur und ihre beiden Töchter in einer Höhle im Meer ein, während sie jagen geht. An einer Leine führt sie das männlich gezeichnete Meerwunder – ein fantastisches Mischwesen. Das von der Meerfrau eingesperrte Meerwunder befreit sich und tötet ihre Töchter (Szene links in der Höhle). Danach nimmt es Wigamur mit aus der Höhle und führt ihn zu sich auf den Meeresboden. Dort erzieht das Meerwunder den Knaben und wird zu seinem Lehrmeister.

 
„Ningyo no zu“. Japanischer Holzschnitt, 1805.
Dieses japanische Flugblatt berichtet über den Fang einer Ningyo (Meerjungfrau) in der Provinz Etchū im Jahr 1805.